Lilly Nothnagel am Strand © Privat

5. OHRENBÄR-Schreibwettbewerb - "Der weiße Gärtner" (3. Platz)

Es war einmal vor gar nicht langer Zeit, da lebte ein Gärtner mit seiner Enkelin Josi in einem Haus, umgeben von einem wunderschönen Garten. In diesem Garten wuchsen die schönsten weißen Blumen, die man sich vorstellen konnte. Und weil der Gärtner nur weiße Blumen züchtete, hieß er auch der weiße Gärtner.
Eines Tages entdeckte Josi beim Durchstreifen des Gartens ein gelbes Blümchen. Sie freute sich sehr über diese kleine Sonne inmitten der weißen Pracht und konnte sich kaum satt sehen. Sie rief ihren Opa herbei, aber der alte Gärtner hatte nur einen Gedanken: die Blume zu pflücken, bevor noch mehr von dieser Sorte auftauchen konnten. Vor Josi äußerte er diese Gedanken nicht und nahm sich vor, das Blümchen am nächsten Morgen zu pflücken.
Die Blume jedoch war nicht nur von anderer Farbe, sie konnte sogar Gedanken lesen. Deshalb war sie nun schrecklich traurig. Sie wollte nicht gepflückt werden, sie war doch noch so klein. Sie wusste nicht, dass sie anders war, als die anderen Blumen im Garten und begann bitterlich zu weinen.
Das hörte der Maulwurf Blacky, der unentdeckt im Garten wohnte. Blacky konnte ein solches Schluchzen nicht ertragen. Er streckte seinen Kopf aus der Erde, fand das Blümchen und fragte, warum es so traurig war. Da erzählte das Blümchen, dass der Gärtner es pflücken wollte. Blacky konnte nicht verstehen, warum. Dass es sich von den anderen Blumen auch durch die Farbe unterschied, erkannte er gar nicht. Blacky überlegte, wie er der Blume helfen konnte, und hatte eine Idee.
"Weißt du was? Ich buddele dich einfach aus und pflanze dich an einer anderen Ecke wieder ein. Inmitten der anderen Blumen wird der Gärtner dich nicht entdecken. Wie findest du das?"
Das Blümchen überlegte, nickte und hörte auf zu schluchzen. Die Idee gefiel ihm sehr. Gesagt, getan. Der Maulwurf machte sich an die Arbeit und pflanzte das Blümchen an einer anderen Stelle wieder ein.
Als es am nächsten Morgen hell wurde, nahm der Gärtner seinen Spaten und ging in den Garten. Dort wunderte er sich sehr. Wo war das Unkraut? Er musste seine Brille holen und ging zurück ins Haus.
Auch Josi war erwacht und in den Garten gerannt, um dem gelben Blümchen Guten Morgen zu sagen. Aber das Einzige, was sie fand, waren der Spaten und die Schaufel ihres Opas. Wütend nahm sie sich vor, kein Wort mehr mit ihrem Opa zu wechseln. Sie war traurig, so furchtbar traurig. Sie setzte sich in eine Ecke des Gartens und schluchzte herzzerreißend.
Das hörte das gelbe Blümchen, das nicht weit entfernt stand. Es reckte sein Köpfchen. Dabei streifte es ein Sonnenstrahl und beleuchtete es so doll, dass es Josi blendete. Wie freute sie sich, ein gelbes Blümchen zu sehen. Sie konnte ja nicht wissen, dass es sich um dieselbe Blume handelte. Sie lachte so laut, dass ihr Opa herbeigelaufen kam und leider auch das Blümchen entdeckte. Oje, das hatte Josi nicht gewollt. Sie flehte ihren Opa an, diese Blume nicht zu pflücken. Der Opa aber wollte der Plage ein Ende setzen. Er wollte keine gelbe Blume in seinem Garten. Er war doch der weiße Gärtner! Diesmal wollte er sofort zur Tat schreiten. Er brauchte nur noch Harke und Spaten. Während er sein Werkzeug holte, rannte Josi ihm hinterher. Sie bat und bettelte, doch ihr Opa sagte nur, dass er kein gelbes Blümchen in seinem Garten dulden würde.
Währenddessen ging im Garten alles ganz schnell. Das Blümchen rief nach Blacky und der Maulwurf kam seiner Freundin sofort zu Hilfe. Er buddelte die Blume aus und pflanzte sie an einer anderen Stelle, umgeben und geschützt von den weißen Blumen wieder ein. Hier sollte es sicher sein.
Als der Gärtner und Josi zurück in den Garten kamen, trauten beide ihren Augen nicht. Das Blümchen war weg!
"Das grenzt an Hexerei. Wo sind diese Blumen? Die können sich doch nicht einfach in Luft auflösen. Wie geht das?", rief der Gärtner. Er stand vor dem Beet und schüttelte den Kopf. Sollte es eine weitere gelbe Blume geben, dann würde er sie sofort fotografieren.
Am nächsten Morgen war Josi früh im Garten. Die Sonne strahlte. Plötzlich stutzte Josi: "Was ist das dort? Es blinkt wieder gelb!" Tatsächlich, da stand ein gelbes Blümchen. Diesmal nahm sich Josi vor, sich still und allein an dem gelben Blümchen zu erfreuen.
Da stand ihr Opa plötzlich hinter ihr und rief: "Ein Glück, ich bin nicht verrückt. Es gibt sie wirklich, die gelben Blumen." Allerdings hopste er umher, als wäre er doch verrückt geworden. Josi verstand gar nichts mehr. "Du bleibst hier und passt auf, dass die Blume nicht verschwindet. Ich hole den Fotoapparat", rief ihr Opa. Und weg war er.
Dann passierte alles ganz schnell. Blacky tauchte leise auf, buddelte das Blümchen aus und pflanzte es an anderer Stelle wieder ein.
"Puh, das war knapp", schnaufte er.
Das Blümchen nickte traurig: "So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt. Ich möchte nicht immer fort und Angst haben."
Als der Gärtner zurückkam, um die Blume zu fotografieren, staunte er nicht schlecht. Als Josi sich umdrehte, stand auch sie mit offenem Mund da.
"Wo ist diese verfluchte gelbe Blume?", schrie ihr Opa erst. Doch auf einmal sank er zu Boden, betrachtete seine wunderschönen weißen Blumen und murmelte: "Vielleicht sind weiße Blumen doch keine so gute Idee … Ich bilde mir schon ein, Farben zu sehen. Das ist ein schlechtes Zeichen."
"Wie meinst du das, Opa? Du bist doch der weiße Gärtner. Deine Blumen sind wunderschön", sagte Josi.
"Ja, das sind sie. Doch hast du dich nie gewundert, warum in unserem Gatten keine bunten Schmetterlinge umherfliegen? Schmetterlinge lieben Farben: Sie sehen die weißen Blumen gar nicht. Und mir, mir fehlen die Farben auch manchmal. Aber … ich bin der weiße Gärtner."
Josi antwortete nicht. So hatte sie ihren Opa noch nie erlebt.
Plötzlich spürte Josi einen feinen Lufthauch. Über ihrem Kopf flatterte ein bunter Schmetterling, so, als wäre es sein erster Ausflug. Anscheinend wusste er nicht, wohin. Dann aber hatte er seinen Weg gefunden und flatterte zielstrebig in eine Richtung und dort, dort leuchtete ein gelbes Blümchen.
Josi und ihr Opa beobachteten den kleinen Flattermann, der sich auf dem Blümchen ausruhte. Es war wirklich etwas Besonderes. Es sah aus, als würde es leuchten. Der Gärtner wusste ja nicht, dass die Blume seine Gedanken lesen konnte und nun sicher war, dass sie nichts mehr zu befürchten hatte. Dem Schmetterling gefiel es in dem Garten sehr gut. Da die weißen Blumen lecker dufteten, ließ er sich auch auf ihnen nieder.
Und wie von Zauberhand schillerten plötzlich alle Blumen, die der Schmetterling besucht hatte, in leuchtenden Farben. Was war das plötzlich für ein Summen und Brummen! Josi und ihr Opa tanzten fröhlich durch die bunte Blumenpracht.
Der Gärtner, der nun kein weißer Gärtner mehr sein wollte, erfreute sich noch viele Jahre an der Farbenpracht seines Gartens. Er liebte das neue Leben in seinem Garten. Er liebte die Schmetterlinge, die Bienen, die Würmer und Schnecken, selbst die Maulwurfshügel störten ihn nicht. Ganz besonders aber liebte er seine gelbe Blume, die noch immer wunderschön leuchtete.

Begründung der Jury

Ein Garten, in dem nur weiße Blumen blühen dürfen - mit diesem Schauplatz legt Lilly den Grundstein für ihre poetische Geschichte. Als sich ein leuchtend gelbes Blümchen in den Garten verirrt, ist der weiße Gärtner außer sich vor Wut. Doch dann öffnet der Zauber der Farben sein hartes Herz: Das erste Mal besucht ein Schmetterling seinen Garten und alles schillert bunt und fröhlich. Die wiederkehrende Struktur und die klare Sprache geben der Geschichte einen märchenhaften Fluss. Er transportiert den Wert des Bunten und Anderen, der Toleranz und Offenheit und lässt den Hörer bereichert zurück.