Virginie Schwarz, Siegerin des Schreibwettbewerbs, mit beiden Armen auf einer Schräge gestützt © Privat

5. OHRENBÄR-Schreibwettbewerb - "Ameisenhochzeit um Mitternacht" (1. Platz)

"Endlich sind Sommerferien", seufzt Katharina.
Katharina ist zehn Jahre alt. Sie wohnt mit ihren Eltern, ihrem kleinen Bruder Manuel und dem Opa auf einem Bauernhof in der Nähe der Ostsee. An diesem ersten Ferientag möchte sie mit einem Buch zum Bootssteg gehen und lesen. Lesen ist ihr Hobby, sie verschlingt ein Buch nach dem anderen. Und der Bootssteg mit den Büschen ringsum ist ihr Lieblingsplatz. Hier kann sich Katharina auch mal verstecken, wenn Manuel sie ärgert.
Sie setzt sich auf ihre Decke, nimmt das neue Buch, das sie von Mama und Papa zum tollen Zeugnis bekommen hat, und will anfangen zu lesen. Aber was ist das? Sie hört Geräusche, ganz fein klingende Stimmchen. Katharina legt sich auf den Bauch, dicht an den Rosenbusch und lauscht. Richtig schön klingt es, wie eine Sommermelodie. Da sieht Katharina die Ameisen.
"Das scheint ja ein richtiges Dorf zu sein", flüstert sie. Und dann hört sie eine zauberhafte Geschichte …
Im Ameisendorf lebt eine wunderschöne Ameise. Sie heißt Anni und will einmal einen besonders schlauen Mann heiraten. Sie sagt:
"Nur wer den Zungenbrecher Blaukraut bleibt Blaukraut und Brautkleid bleibt Brautkleid aufsagen kann, wird mein Mann!"
Ist das ein Getuschel im Ameisendorf! Alle Ameisenmännchen üben. Sie sind verzweifelt, es ist einfach zu schwer! Es gibt zwei Ameisenmännchen, die unbedingt die schöne Anni heiraten wollen. Das eine Männchen heißt Armin und scheint hinterlistig zu sein. Das andere Ameisenmännchen heißt Archibald und ist lieb, ehrlich und fröhlich. Alle anderen Ameisen scheinen ihn sehr zu mögen.
Schon bald kann Archibald den Zungenbrecher. Bis zum achten August hat er noch Zeit, ihn richtig schön zu üben. An diesem Tag soll Ameisenhochzeit sein.
Aber auch Archibald will Anni testen und sagt zu ihr: "Du willst einen schlauen Mann, aber wir Ameisenmännchen wollen auch eine schlaue Frau, nicht nur eine wunderschöne!"
"Na, glaubst du ich bin dumm? Was soll ich machen?", fragt Anni.
"Hör zu: Der Leutnant von Leuthen befahl seinen Leuten, nicht eher zu läuten, als bis der Leutnant von Leuthen seinen Leuten das Läuten befahl. Du hast ja noch ein bisschen Zeit zum Üben!"
"Oh nein", schreit Anni. "Du weißt doch, dass wir Ameisenmädchen kein L aussprechen können, du bist gemein!"
"Das ist nur fair", sagt Archibald, und Anni geht traurig weg.
Sie besucht ihre Freundin Adele. Adele ist schlau und weiß für alles einen Rat. Sie hat immer ein rotes Buch dabei. Sie guckt unter L und liest laut vor: "LOGOPÄDE. Das ist jemand, der einem Sprechen beibringt."
"Und wo finde ich so jemanden?"
"Wir müssen da gucken, wo die Menschen immer nachsehen, im Internet!"
"Das geht nicht", sagt Anni. "Da bin ich mal über die Tastatur gelaufen und zwischen zwei Buchstaben abgestürzt."
Sie überlegen weiter.
"Die vorlaute Spinne aus dem Spinnendorf können wir fragen. Das ist doch gleich hinter unserem Dorf", meint Adele.
Und dann laufen die zwei Ameisen 40 cm weiter ins Spinnendorf bis zum Wacholderbusch, unter dem die Spinne lebt. Als sie dort ankommen, sehen sie ein Schild:
GEÖFFNET Nur montags 9-18 UHR
"Da haben wir ja Glück!" Die Ameisen klopfen an, und die Spinne kommt raus: "Was wollt ihr?", fragt sie mit knurrender Stimme.
"Entschuldige, dass wir dich stören, aber ich habe ein riesengroßes Problem. Ich muss das L aussprechen können", sagt Anni.
Die Spinne ist erstaunt. "Nur sehr wenige Ameisenweibchen können das L sprechen."
"Aber ich muss einen Zungenbrecher üben, hilf mir bitte!"
"Na gut, das kostet 3 Fliegen. Fangen wir an!"
"Einverstanden", sagt Anni. Die nächsten Tage sollen Anni und Adele ins Spinnendorf gehen. Diese Zeit brauchen sie zum Üben …
… Katharina bemerkt plötzlich, dass es dämmert. Sie muss immer im Hellen nach Hause gehen, da sind ihre Eltern richtig streng. Aber sie freut sich schon auf den nächsten Tag. Das neue Buch, das sie unbedingt haben wollte, ist plötzlich gar nicht mehr so wichtig.
Am nächsten Tag läuft Katharina gleich nach dem Frühstück zum Bootssteg.
'Hoffentlich habe ich nichts verpasst', denkt sie aufgeregt.
Aber es scheint nicht so. Ihre kleinen Freunde machen sich gerade wieder auf den Weg ins Spinnendorf. Dort übt Anni fleißig das L. Es scheint ihr schwer zu fallen, denn sie sieht traurig aus. Aber ihre Freundin Adele muntert sie auf: "Das schaffst du! Seit wann lässt sich eine Ameise unterkriegen?"
Da muss Anni lachen und übt weiter. So geht das ein paar Tage. Dann kann auch Anni den Zungenbrecher. Sie freut sich schon auf den Hochzeitstag.
Anni hofft, dass nur Archibald den Zungenbrecher kann. Denn sie ist schon lange in ihn verliebt. Dann, am achten August, bekommt sie einen großen Schreck! Es sind mindestens 20 Ameisenmännchen da. Alle versuchen den Zungenbrecher aufzusagen. Aber bisher hat es nur Archibald geschafft. Zum Glück!
Jetzt ist noch Armin da und den kann Anni überhaupt nicht leiden. Ojemine! Er stellt sich vor Anni und sagt den Zungenbrecher fehlerfrei auf. Aber … seine Stimme klingt so anders. So hohl! Alles guckt zu Armin. Auch Katharina, die schon viele, viele Tage die Kleinen beobachtet, hat so eine schnarrende Stimme noch nie gehört und wundert sich. Armin wird rot.
Anni sagt entsetzt: "Du kannst den Zungenbrecher?! Aber warum ist deine Stimme so anders?" Armin versteckt etwas hinter seinem Rücken. "Was hast du da?"
"Hast du Hörgeräte?", fragt Archibald.
"Nein", sagt Armin leise.
"Was ist los?", wollen alle wissen.
Erst sagt Armin nichts. Dann antwortet er traurig: "Ich konnte mir den Zungenbrecher nicht merken, da habe ich mir ein Abspielgerät gebaut. Aus Draht und Batterien von Hörgeräten."
"Und wo hast du das her?", fragt eine Ameise interessiert.
"Aus Büchern, von den Menschen", flüstert Armin. "Als ich vor zwei Tagen Essen suchte, fand ich ein Handwerkerlexikon, eigentlich wollte ich nur das Marmeladenbrot naschen, das dort lag, aber dann hab ich in dem Buch viele tolle Sachen zum Bauen gesehen. Draht und Batterien fand ich in einer Werkstatt."
'Bestimmt in Opas Werkstatt', denkt Katharina und schmunzelt. 'Hat Opa sich nicht gewundert, dass die Packung von seinen Hörgerätebatterien angeknabbert ist?'
"Das ist ja toll, dann kannst du zu meiner Hochzeit Musik abspielen", freut sich Anni. Auf einmal ist Armin stolz. Viele Ameisen wollen etwas von ihm gebaut haben. Und um Mitternacht will Anni ihren Archibald heiraten. Vorher sagt sie fehlerfrei ihren schweren Zungenbrecher auf.
'Es ist ja Samstag!', denkt Katharina. 'Da wollen wir abends ein Lagerfeuer machen. Bestimmt kann ich mit meiner Taschenlampe zum Bootssteg gehen. Glück muss der Mensch haben!'
Und so sitzt Katharina am achten August mit ihrer Taschenlampe am Rosenbusch und schaut verträumt auf ihre kleinen Ameisenfreunde. Anni hat ein wunderschönes Brautkleid an aus weißem Schleifenband, das sie bei den Menschen gefunden hat. Die ganze Nacht tanzen die Ameisen zu Armins Musik. Es ist eine große Feier und Armin ist ab jetzt der Held.
Und Katharina sagt leise vor sich hin: "Wir leben hier nicht alleine. Wir haben tolle, kleine Nachbarn, deren Geschichten spannender sind als jedes Buch."

Begründung der Jury

Schon der Titel klingt originell, zauberhaft und spannend. Und genau so ist die Siegergeschichte von Virginie. Ihre Hauptfigur Katharina entdeckt unterm Rosenbusch ein Ameisendorf. Eine Hochzeit soll gefeiert werden, aber vorher müssen Prüfungen bestanden und Zungenbrecher aufgesagt werden. Wie bei den Menschen regieren in der Ameisenwelt Liebe und Freundschaft, aber auch Neid und Betrug. Die Geschichte ist dicht erzählt und jongliert mit Sprache und Klang. Sie malt nicht schwarz-weiß, sondern versteht Fehler als Chance. Und am Ende weiß man: Schwächen können auf den zweiten Blick auch Stärken sein. "Rundum zauberhaft!", so das Fazit der Jury.